Der Lernprozess
Angelehnt an die östliche Philosophie, redet man oft vom Shu – ha – Ri Prinzip. Dieses Verständnis des Lernprozesses wird von Alistair Cockburn verwendet, um zu zeigen, wie wir neue Techniken und Methoden der Softwareentwicklung lernen.
Der Prozess findet in drei verschiedenen Phasen statt, die wie ihr euch bereits vorstellen könnt, Shu, Ha und Ri genannt werden. Alistair übersetzt sie mit den Worten: Folgen, Trennen und Fließen (following, detaching and fluent).
Shu (守)
Die erste Stufe ist Folgen. Wir konzentrieren uns auf eine der möglichen Lösungswege. Auch wenn es viele andere Wege gibt, die uns zur Lösung führen könnten, wir können sie nicht alle auf einmal lernen. Wir lernen diesen einen Weg von jemandem, der es bereits beherrscht.
Wir wollen das Problem lösen, wir wollen etwas das „funktioniert“ und das wir halbwegs verstehen können. Die geheimen Prinzipien, die sich dahinter verstecken, sind jetzt nicht relevant. Die Lösung ist unser Ziel und um sie zu finden, lassen wir uns leiten. Wir kopieren schlicht und ergreifend. Wenn ich irgendwas Neues lernen will, ist mein erster Schritt zu schauen, wie die Experten das Problem lösen. Üblicherweise nehme ich Bücher zur Hand oder forsche im Internet darüber. Ich entscheide mich für EINEN Weg, eben einen, den die „Meister“ sich ausgedacht haben, den ich begreife, und der verspricht mir dabei zu helfen das Problem zu lösen.
Alles andere ist gerade unwichtig. Ist das verkehrt? Ich denke nicht. Verkehrt wäre es, wenn ich es dabei belassen würde. Nach dem Motto gut kopiert ist die halbe Mitte, bleibt da noch Luft nach oben. Ich kenne jetzt die Theorie, aber Übung habe ich keine und das ist, was mir eben fehlt. Um wirklich zu lernen, muss ich mich damit beschäftigen, ausprobieren, versuchen, Fehler machen, aussortieren. Und immer auf den aufgezeichneten Weg bleiben. Das ist so, weil ich nicht weiß, wo ich mich wiederfinde, wenn ich den Weg verlasse. So gut bin ich nicht. Zumindest noch nicht.
Ha (破)
In der zweiten Stufe Trennen wir uns. Wir befreien uns der festen Hand des EINEN und wandern jenseits des Weges auf Erkundungstour. Der Grund dafür ist, dass wenn wir genug Erfahrung mit dem Lösungsweg gesammelt haben, seine Grenzen uns immer bewusster werden. In diesem Moment beginnen wir uns damit zu beschäftigen, wie genau die Lösung funktioniert. Hier ist nicht nur wichtig, dass es funktioniert, sondern das Warum zu verstehen. Wir fangen an das Problem mit neuen Möglichkeiten zu lösen. Experimentieren und passen den Lösungsweg auf die neuen Gegebenheiten an. Mit dem ganzen Verständnis, das wir bis jetzt gewonnen haben, sind wir in der Lage die Prinzipien nach und nach zu begreifen. Das erlaubt uns auch die Lösungswege anderer Experten zu verstehen und anwenden zu können, wenn sie sich besser eignen. Wir fügen dieses Wissen unsern bereits vorhandenen Schatz hinzu.
Ri (離)
Die dritte Stufe. Fließen. In dieser Phase hat das Lernen eine andere Bedeutung. Hier ist es völlig irrelevant, ob ein bestimmter Weg gefolgt wird oder nicht. Wir treten ein und suchen uns anhand unserer Erfahrungen und Kenntnisse einen Weg zur Lösung. Ob es diesen Weg bereits gibt oder ob es von uns durchgeschlagen wurde, fällt nicht mehr ins Gewicht. Wir merken es nicht einmal. Es fließt. Für mich bedeutet Ri, dass man die abstrakte Idee begriffen hat und die Expertise besitzt, anhand dieser Idee zur Lösung voranzuschreiten, ohne sich an irgendwelche Lehren halten zu müssen.